A. Würgler (Hrsg): Grenzen des Zumutbaren

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Titel
Grenzen des Zumutbaren. Erfahrungen mit der französischen Okkupation und der Helvetischen Republik (1798–1803)


Herausgeber
Würgler, Andreas
Erschienen
Basel 2011: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
123 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Andreas Fankhauser

Der ansprechend gestaltete Sammelband enthält die Beiträge eines Panels der 2. Schweizerischen Geschichtstage 2010 mit dem Rahmenthema «Grenzen», das Andreas Würgler, Privatdozent an der Universität Bern, Gelegenheit bot, den Erfahrungen der Schweizer Bevölkerung mit den französischen Okkupanten und mit der Helvetischen Republik nachzugehen und zusammen mit ausgewiesenen Fachleuten die «Grenzen des Zumutbaren» bei Individuen und Gruppen auszuloten. Die mit der Besetzung durch französische Truppen einhergehende Revolution von 1798 und ihre Folgen wurden von den Zeitgenossen je nach Landesgegend, rechtlichem Status und wirtschaftlicher Lage unterschiedlich wahrgenommen. Ihre schriftlich festgehaltenen negativen oder positiven Erinnerungen an den grossen Umbruch blieben nicht ohne Wirkung auf die Gedächtnispolitik der Kantone und trugen zur kontroversen Beurteilung der Helvetik durch die Historiographie bei. Wie Würgler einleitend ausführt, waren bei den einen die ideellen, materiellen oder körperlichen Grenzen des Erträglichen rascher erreicht als bei den anderen. Die Autorin und die Autoren der fünf qualitativ hochstehenden Fallstudien analysieren anhand verschiedener Akteure die Gründe und untersuchen die Reaktionsweisen. Eric Godel beschäftigt sich mit der feindseligen Haltung der Innerschweizer gegenüber der Helvetischen Republik. Eine Mehrheit empfand den Einheitsstaat als Bedrohung der christlichen Religion und den «Franzoseneinfall» als göttliche Heimsuchung. Die Verteidigung des katholischen Glaubens legitimierte den teilweise gewaltsamen Widerstand gegen die «protestantische» Helvetik und die Zerstörung ihres sichtbarsten Symbols, des Freiheitsbaums. Die Bewahrung der Unabhängigkeit lag in der Befreiungstradition und letztlich im Bewusstsein, einem von Gott auserwählten Volk anzugehören, begründet. Daniel Schläppi behandelt am Beispiel des Gemeinbesitzes die gescheiterte Durchsetzung des Verfassungsgrundsatzes der Gleichheit. Die politische Umwälzung bedrohte die Ortsbürgergemeinden und die Korporationen, die wichtige öffentliche Aufgaben wahrnahmen, in ihrer Existenz. Die Angst vor dem Verlust des Eigentums führte vielerorts zur Aufteilung von Gemeindegütern, was die helvetischen Behörden, welche nicht auf die administrativen Leistungen der Kommunen verzichten konnten und anarchische Zustände befürchteten, in Zugzwang brachte. Da eine Enteignung kollektiver Vermögenswerte ausserhalb des Denkhorizonts der unter dem Ancien Régime sozialisierten Revolutionäre lag, lösten sie das Problem durch die Beibehaltung der Bürgergemeinden zugunsten der Privilegienverbände und verzichteten auf die Beseitigung struktureller Ungleichheiten aus der Zeit vor 1798. Philippe Oggier setzt sich mit der körperlichen Gewalt der französischen Besatzer gegen Zivilpersonen in den Kantonen Bern und Oberland 1798–1803 auseinander. Er hat in den Quellen 55 Gewalttaten ermittelt, 7 davon mit tödlichem Ausgang. Mehr als die Hälfte ereignete sich im Vorfeld und während des 2. Koalitionskriegs. Die Opfer, von denen viele an den grossen Durchgangsstrassen lebten, entstammten vor allem der ländlichen Unter- und Mittelschicht. Die Männer waren in erster Linie von Misshandlungen betroffen, die Frauen von Vergewaltigungen. Im Unterschied zu anderen Begleiterscheinungen der Okkupation wurden die Gewalttaten gegen Zivilpersonen als besonders bedrückend empfunden und letztlich der von den Besatzungstruppen gestützten helvetischen Regierung angelastet. Oggier beurteilt das Verhalten der Okkupanten als insgesamt «gemässigt», räumt jedoch ein, dass die empirische Basis verbreitert werden müsste. Leider bleiben die Gewaltakte von Schweizern gegen französische Militärpersonen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit auch im Kanton Bern vorkamen, unberücksichtigt. Danièle Tosato-Rigo geht näher auf die negativen Aspekte der Revolution in der Waadt ein. Zwischen Januar und März 1798 hatten die Waadtländer Gemeinden die an der französischen Offensive gegen Bern beteiligten Einheiten zu beherbergen und zu versorgen, was einige Kommunen bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten beanspruchte. Danach litt der Kanton Léman bis zum Jahr 1800 unter den ständigen Truppendurchmärschen. Die französischen Oberbefehlshaber bemühten sich, die Übergriffe auf Zivilpersonen in Grenzen zu halten. Auf die von ihnen geforderten «Anleihen» und Kriegsfreiwilligen reagierte die Bevölkerung mit passivem Widerstand. Die helvetischen Behörden und später ebenso die Waadtländer Historiographie würdigten die französische Unterstützung bei der Befreiung von der bernischen Herrschaft und blendeten die unangenehme Seite der militärischen Präsenz Frankreichs erfolgreich aus. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen erste Studien über antirevolutionären Widerstand in der Westschweiz. André Holenstein zeigt auf, wie sich der «Übergang» im März 1798 zu einem Fixpunkt der bernischen Erinnerungskultur des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelte. Schon ein Jahr nach der Konstituierung der Helvetischen Republik sammelten Anhänger der alten Ordnung Berichte von Augenzeugen über die Geschehnisse im Grauholz. In der Regenerationszeit lieferte die Dokumentierung der revolutionären Ereignisse den Konservativen Argumente im Politischen Kampf gegen die Liberalen und begünstigte bei der alten Elite die Tendenz zur Verklärung des Alten Bern. Die systematische Erinnerungsarbeit lag hauptsächlich in den Händen des Historischen Vereins, der von 1852 an zahlreiche Selbstzeugnisse veröffentlichte, die – obschon oft aus grosser zeitlicher Distanz verfasst – aufgrund ihres Quellencharakters von der Forschung rezipiert wurden und unter anderem in Richard Fellers wirkungsmächtige liberalismuskritische Darstellung der Geschichte Berns einflossen. Während das Interesse am Untergang der grössten Stadtrepublik nördlich der Alpen bis heute anhält, muss es für die Periode zwischen 1798 und 1803 noch im 21. Jahrhundert oft zuerst geweckt werden. Es ist zu hoffen, dass der anregende und nützliche Band «Grenzen des Zumutbaren» den Anstoss zu weiteren Forschungen über die Helvetik gibt.

Zitierweise:
Andreas Fankhauser: Rezension zu: Andreas Würgler (Hg.): Grenzen des Zumutbaren. Erfahrungen mit der französischen Okkupation und der Helvetischen Republik (1798–1803). Basel, Schwabe Verlag, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 505-506

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 505-506

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